PMO-Theaterkritik: Gefangen im digitalen Inferno

puppen.etc (Berlin): „Pling! Kasper mach(t) das Licht an!“

Als der Tod sie zum Tanz auffordert, kann die Großmutter nicht widerstehen. Schon so lange hat sie niemand mehr besucht, dass sie sich nun in die Arme des Schnitters fallen lässt. Ein paar Runden schweben sie gemeinsam dahin, selig vereint in inniger Nähe. Dann aber reißt sich die Großmutter noch einmal los. Nein: So will sie nicht gehen. Vielleicht haben der Kasper, der Seppel und die Gretel sie ja doch noch nicht vergessen.

Eine wunderbar traurige und zugleich wunderbar schöne Szene zaubert Christiane Klatt mit diesem beinahe tödlichen Reigen an den Rand der Bühne. Ein verführerisches Verweilen im Schwebezustand, ein kurzes Innehalten zwischen Himmel und Erde – bevor es zurückgeht in den alltäglichen Trott von fortwährender Selbstoptimierung und unablässiger Vernetzung. Oder – wie es Klatt selbst nennt – in den „digitalen globalen Totalitarismus“.

Mit ihrem Stück „Pling! Kasper mach(t) das Licht an“ hat sich die Puppenspielerin ein persönliches Unbehagen von der Seele geschrieben. Mit dem klassischen Ensemble des Kaspertheaters spielt sie durch, was die schöne neue Onlinewelt aus den Figuren macht. Seppel wird zu einem ewig gehetzten Paketboten, der im Strudel von Echtzeit-Tracking, Bonussystemen und vermeintlicher Selbstständigkeit untergeht. Gretel versucht derweil, sich als Influencerin immer neu zu erfinden, bis sie am Ende selbst nicht mehr weiß, was für ein Profil eigentlich noch von ihr übrig geblieben ist. Und der Kasper? Lässt sich mal hierhin, mal dorthin treiben und meint, mit Spott und Schabernack über den Dingen zu stehen. Aber macht er sich da nicht etwas vor? Ist nicht auch er längst zu einer Spielfigur im innovativen Geschäftsmodell des Chief Digital Officer geworden? Den kannte man früher übrigens als den Teufel…

Der Abend ist ein vielschichtiges Nachdenken darüber, wie die behaupteten Segnungen der weltumspannenden Digitalisierung das Zusammenspiel der Figuren und am Ende den Zusammenhalt in der Gesellschaft verändern. Wirklich froh stimmt die Bestandsaufnahme nicht. Früher einmal schienen die Puppen auf der Bühne aus Fleisch und Blut zu sein, keine hölzernen Wesen ohne Seele. Nun aber verwischen die Konturen zusehends und am Ende sind sie nur noch Flachware aus billigem Sperrholz, fahle Silhouetten, die im endlosen Strom der Daten austauschbar geworden sind. Ist es das, was bleibt? Loggen wir uns wirklich gerade ein nach Mephistopolis? Mit dem Password: Hölle?

In knapp eineinhalb Stunden gibt es für die Zuschauerinnen und Zuschauer eine Menge herber Daten-Wahrheiten zu schlucken. Sie schmecken nur deshalb nicht ganz so bitter, weil Christiane Klatt sie in puppenspielerische Miniaturen von poetischer Intensität überträgt. Die Bühne ist ein flaches Gitter aus mehreren Reihen übereinandergestapelter Quadrate. Klatt nutzt diese schachbrettartige Anordnung von Räumen für immer neue Ein- und Ausblicke, für Querverbindungen und Diagonalen. Sie spielt vor und hinter dem Gitter, darüber und darunter. Und jedes Mal entwirft sie mit ihren Fingerpuppen und wenigen Accessoires neue Szenerien, die sich im Nu wieder auflösen oder ineinander übergehen. Dem Schutzmann, im digitalen Wording: Chief Security Officer, reicht zum Beispiel ein langes Fernrohr, um das allgegenwärtige Auge des Gesetzes, nein: des Datensammlers, zu symbolisieren.

In dieser konsequenten Reduktion, verbunden mit einer sehr geschickten Licht- und Tongestaltung, liegt eine große Stärke dieser Inszenierung (Regie: Kristiane Balsevicius). Das zurückhaltende, wenngleich überaus abwechslungsreiche Spiel schafft den Resonanzraum, den das inhaltlich sehr komplexe Stück braucht. Die Beklommenheit wächst von Minute zu Minute: Sind das die Kasperlfiguren, die wir uns selbst erschaffen haben – ferngesteuerte Zombies des digitalen Zeitalters? Und wie steht es um uns selbst? Haben wir uns auch schon verkauft an Algorithmen und Transformationsmantras, an Big Data und Modernisierungsgläubigkeit?

Die Heldin des Abends aber bleibt die Großmutter: Trotzt am Ende der tänzerischen Verführungskunst des Teufels. Bleibt sich selbst treu. Das doofe Smartphone, das die Kinder ihr geschenkt haben, um angeblich leichter erreichbar zu sein, wird sie ohnehin nie verstehen. Also wartet sie darauf, dass doch mal wieder einer vorbeikommt und ein paar Minuten sitzen bleibt, im Echtraum und in Echtzeit. Kann ganz schön verblüffend sein. Auch was Großmutter zu sagen weiß: „Für das Leben musst du dich entscheiden, Kind!“

Klaus Grimberg
 
Konzept/Spiel: Christiane Klatt
Regie: Kristiane Balsevicius
Musik: Felix Kroll
Ausstattung: Silvia Eisele/Christiane Klatt
Produktionsassistenz: Laura Frey
Foto: Janina Reinsbach

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